Daniel Hofstetter fiel in den Oberaargletscher. Er wurde gerettet, sein Rucksack blieb zurück – bis dieser im Jahr 2021 von zwei Wanderern gefunden wurde. Die Kantonspolizei Bern brachte ihn seinem Besitzer zurück, der ihn wiederum dem Alpinen Museum in Bern schenkte.
Er kann die Kälte schon lange nicht mehr fühlen, sie hat inzwischen weitgehend von ihm Besitz ergriffen. Sein Gefängnis ist dunkel, kein einziger Sonnenstrahl reicht so tief. Wie lange er schon hier ist, weiss er nicht mehr. Manchmal meint er, Fussstapfen zu hören – und auch wenn er es besser wissen sollte, glaubt er dann, dass ihn jemand holen kommt. Vergeblich. Er ist allein, allein im Dunkeln. Nur das Geräusch von Wasser, das durch den Gletscher rauscht, durchbricht die Stille.
Auf den Tag genau 29 Jahre im Gletscher, nun im Alpinen Museum in Bern – Daniel Hofstetters Rucksack eröffnet dort das neue Format «Amuse-Bouche». Dabei handelt es sich um Ausstellungsstücke des Alpinen Museums der Schweiz, die in einer Schau-Box im Restaurant «Las Alps» – dem Museums-Restaurant – ausgestellt werden. «Viele Menschen essen im Restaurant, kommen aber nicht das Museum besuchen», erklärt Projektleiterin Michelle Huwiler. So könne die Ausstellung auch den Gästen des Restaurants etwas nähergebracht werden.

Neben dem Ausstellungsstück in der Vitrine bietet das Alpine Museum einen Podcast an, der über einen QR-Code erreicht werden kann. Dort erklären Michelle Huwiler und Nathalie Lötscher, wie sie zum Ausstellungsobjekt gekommen sind und welche Geschichte dahintersteckt.
Zweieinhalb Stunden im Gletscher
Die erste Geschichte hat es in sich: ein Rucksack, der auf den Tag genau 29 Jahre lang verschollen war. Im Jahr 1992 wollte ein damals 25-jähriger Daniel Hofstetter das 4274 Meter hohe Finsteraarhorn besteigen. «Ich ging alleine, weil mir meine beiden Kollegen wenige Tage zuvor abgesagt hatten», erzählt Hofstetter. Eine Dummheit, wie er heue ohne Umschweife zugibt. Besonders auch, da er am Grimselpass erst kurz vor 13.00 Uhr zu dieser sechsstündigen Bergtour aufgebrochen war.
Nach etwa zwei Dritteln der Wegstrecke zur Finsteraarhornhütte SAC stürzte er durch eine aufgeweichte Schneebrücke 18 Meter tief in eine Spalte des Oberaargletschers. Da es bereits gegen Mitte Nachmittag ging, waren auf dem Gletscher natürlich keine Berggänger mehr unterwegs. Trotz der absolut aussichtslosen Lage hatte Hofstetter unglaubliches Glück: Nach eineinhalb Stunden hörten zwei deutsche Alpinisten sein verzweifeltes «heiseres Brüllen». Sie starteten umgehend eine Rettungsaktion – erfolgreich. Nach einer weiteren Stunde war Hofstetter befreit und befand sich wieder auf der Oberfläche des Gletschers.
«Ich war insgesamt rund zweieinhalb Stunden in der Spalte», erzählt er. Bis auf die Knochen durchnässt und kurz vor dem Erfrierungstod – die Rettung kam quasi in letzter Sekunde. «Dass ich überlebt habe, ist für mich noch immer ein grosses Wunder.» Nur der Militärrucksack blieb zurück. «Er war zu schwer und zu sperrig», sagt Hofstetter. Die Rettung mit Rucksack wäre praktisch unmöglich gewesen, und Hofstetter war deshalb gezwungen, diesen zurückzulassen.

Er blinzelt. Normalerweise ist es nicht so hell. Ist das die Sonne? Warum kann er plötzlich die Sonne sehen? Zwei Gestalten bewegen sich auf ihn zu. Er blinzelt noch ein paar Mal, kann aber noch immer nichts erkennen. Grelles Weiss umgibt ihn. Die beiden Gestalten bleiben neben ihm stehen und bücken sich zu ihm herunter.
Hofstetter gefunden dank AHV-Nummer
Nach 29 Jahren hat der Gletscher den Rucksack wieder freigegeben. Am 6. August 2021 – demselben Tag, an dem Hofstetter in die Spalte fiel – wurde er von zwei Bergsteigern entdeckt. Der Gletscher war in den knapp 30 Jahren so stark geschmolzen, dass der Rucksack nun auf der Oberfläche zum Vorschein kam. Dank der AHV-Nummer, die auf einem Plastikschildchen am Rucksack immer noch lesbar war, konnte die Kantonspolizei Bern seinen Besitzer ausfindig machen. Sie riefen Hofstetter an, um ihm die unglaubliche Nachricht zu verkünden – wie es der Zufall wollte, genau am Tag des Unfalls. Hofstetter wiederum fragte dann das Alpine Museum in Bern an, ob der Rucksack dort ausgestellt werden könne.

«Zu einer solchen Geschichte kann man natürlich nicht Nein sagen», meint Huwiler. Der Rucksack eröffne nun das neue Format. Was dann in einem halben Jahr in der Vitrine ausgestellt wird, wisse sie noch nicht. Vermutlich werde sie nicht immer ein Objekt mit einer «solch tollen Geschichte» finden, meint Huwiler. «Aber wir geben uns Mühe.»
Den Rucksack nach so vielen Jahren wiederzusehen, löst in Hofstetter verschiedenste Gefühle aus. «Ich habe bis jetzt immer erzählen müssen, dass der Rucksack nicht gerettet werden konnte», sagt der ehemalige Bergsteiger. «Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich ihn jemals wiedersehen würde.»
Nach dem Anruf der Kantonspolizei Bern habe er sich den Rucksack sofort schicken lassen. «Ich liess alle Objekte, die wiedergefunden wurden, auf mich einwirken.» Es sei schon «sehr speziell», seine alten Sachen nach so vielen Jahren wiederzusehen. Die Alu-Militärfeldflasche, die total verbogen ist, die rostigen Steigeisen, die Sonnencreme mit dem Schutzfaktor drei – sie alle rufen Erinnerungen an ein Erlebnis hervor, welches für Hofstetter beinahe mit dem Tod geendet hat.

Das hinterlässt Spuren: «Ich war seither nur noch zwei, drei Mal auf einem Gletscher unterwegs – aber nie mehr alleine», sagt Hofstetter. Der Sturz habe ihn da schon deutlich vorsichtiger werden lassen. Aber er meint auch: «Ich habe die Berge zu gern, als dass ich nach dem Unfall gar nicht mehr in die Alpen gegangen wäre!»
Rucksack als Mahnmal
Dass der Rucksack nun im Museum ausgestellt ist, dient nicht zuletzt auch als Warnung für andere. «Ich hoffe, dass er auch eine Art Mahnmal für andere Bergsteiger sein kann», sagt Hofstetter. Seine Geschichte, die nur um Haaresbreite an einer Katastrophe vorbeigeschrammt ist, solle andere daran erinnern, in den Bergen die nötige Vorsicht walten zu lassen.

Menschen, die um ihn herumwuseln, das kratzende Geräusch von Messern auf dem Teller – der Rucksack sieht sich um und lächelt. Es ist schon beinahe zu laut, zu hell, zu viel. Dennoch geniesst er das Bad in der Menge, nach so langer Zeit alleine. Der Raum ist warm und hell, die Vitrine gemütlich. Das Lächeln weicht nicht von seinem Gesicht, als der Rucksack die Augen schliesst. Langsam gleitet er in die Traumwelt – zum ersten erholsamen Schlaf seit 29 Jahren.
Dieser Artikel ist ursprünglich auf jungfrauzeitung.ch erschienen.