Und wohin jetzt?


Und wohin jetzt?

«Wie geht es dir?», ist immer die erste Frage, die dir jemand stellt, wenn du sie nach langer Zeit wieder siehst. Dicht gefolgt von «Was machst du gerade?» Einfach. Die Ausbildung zur Journalistin. Die in wenigen Monaten zu Ende geht. Und dann? Was machst du dann?
Eine Frage, die ich noch nie zu beantworten wusste.

Warum? Weil man mit Büchern kein Geld verdienen kann. Weil man verdammt gut sein muss, um auch nur einigermassen erfolgreich zu sein. Weil ich Angst davor habe, nicht gut genug zu sein.

Und weil ich die Heldenreise nicht mag. Leider wird die nicht nur in der Literatur, sondern auch im Journalismus verwendet – lernte ich einem Kurs während meinem Studium. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Heldenreise startet mit einer Person in ihrem Normal-Zustand. Sie begibt sich auf eine Reise ins Unbekannte, wobei sie auf Hindernisse, Helfer*innen und sogar eine*n Mentor*in trifft. Letzten Endes kehrt sie wieder zu ihrem Normal-Zustand zurück – wobei sie nicht mehr dieselbe Person ist.

Natürlich ist das nur eine grobe Zusammenfassung – dennoch finde ich die Heldenreise generell zu simpel. Man geht nicht einfach in die Welt hinaus, trifft auf Hindernisse und Helferin*innen und kommt als veränderter Mensch wieder zurück. Zu oft habe ich gehofft, dass ich mich endlich ändern würde. Dass ich mein Leben in den Griff bekomme, mich entscheide, was ich machen will mit meinem Leben. Aber ich bin immer noch ich.

Wo ich hin will? Bücher schreiben. Und wenn ich realistisch bleibe? Keine Ahnung. Zwischendurch dachte ich, dass Journalismus die Antwort ist. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Und das macht mir ein wenig – viel – Sorgen. Und vielleicht auch etwas Angst.

Warum also nicht einfach einen Artikel darüber schreiben, meine ganzen Sorgen und Ängste aufs Papier «kotzen»? Was mir übrigens auch etwas – viel! – Angst macht, aber man muss ja bekanntlich Grosses wagen, um Grosses zu erreichen… oder so.

Ich weiss, dass es auch anders geht. Dass es Menschen gibt, die einfach machen, einfach ihr Leben geniessen, einfach entscheiden. Ohne diese Entscheidung dann tagtäglich zu hinterfragen. So wie Melanie.

Als ich Melanie Beugger kennenlernte, zeichnete sie sich für mich vor allem durch eines aus: Sie wusste zu allem irgendetwas, über das sie reden konnte. Sie schien selbstsicher, aber nicht zu sehr von sich selbst überzeugt. Sie schien, als wüsste sie, was sie hier eigentlich genau macht.

«Ich mache mir aber auch zwischendurch Sorgen», sagt sie, als ich sie frage, sich für meine Diplomarbeit für ein Porträt zur Verfügung zu stellen. «Umso besser», antworte ich.

Mein Konzept: Ich suche mir eine Person – Melanie – die im Grunde das genaue Gegenteil von mir ist. Die keine Angst vor der Zukunft, vor Entscheidungen hat. Und dann führen wir ein Gespräch. Über die Angst.

Melanie, die Mentorin

Melanie und ich treffen uns Anfang November an der Basler Herbstmesse. Während wir auf dem Weg dorthin durch Basel schlendern, plappert Melanie wie ein Wasserfall. Wobei plappern das falsche Wort ist. Es klingt nach einem Papagei, nach zu viel Aufregung. Egal worum es auch geht – Melanies Tonlage ist immer sachlich und ruhig. Auch ihr Äusseres wirkt irgendwie unaufgeregt: Kurze Haare und stahlblaue Augen, in denen stets – so klischeehaft es auch klingen mag – ein schelmisches Grinsen liegt. Als wüsste sie etwas, wovon ich nur träumen kann.

Melanie ist in Basel-Land aufgewachsen. Sie hat einen älteren Bruder, der studierte, eine Mutter, die Konditorin lernte und inzwischen auf dem RAV arbeitet, und einen Vater, der Polygraf war und früh starb.

Wie wahrscheinlich alle Kinder hatte auch Melanie in ihren ganz jungen Jahren einen Traumberuf. Allerdings war dieser doch eher ungewöhnlich: Pathologin. Auch wenn sie als Kind diese Bezeichnung nicht kannte. Mit ungefähr acht Jahren sei sie bei ihrem Hausarzt gewesen. Während sie so in seiner Praxis sass und über Gott und die Welt nachdachte, sei sie zum Schluss gekommen, dass Ärztin zu werden eigentlich noch toll wäre. Wiederum habe sie sich nicht den ganzen Tag mit jammernden Menschen herumschlagen wollen. Also die entscheidende Frage: Wo – beziehungsweise wann – kann sie eine Ärztin sein, aber die Menschen sind ruhig? Die Antwort: Wenn sie tot sind. Oder wie es die damalige achtjährige Melanie nannte: Leichenmetzgerin. Weil Metzger auch Tiere aufschneiden, genau wie der Pathologe Menschen.

Diese Berufsrichtung konnte sie allerdings nie verfolgen. Weil ihr die schulische Grundausbildung fehlte. Und sie auch etwas zu faul gewesen sei, um sich dafür mehr anzustrengen, gibt sie heute zu. Das Interesse an medizinischen Themen blieb allerdings bestehen. Und begleitete sie auch durch ihre berufliche Karriere: Jeder Beruf, den sie ausübte, hatte irgendeine entfernte Verbindung zur Medizin.

Nach der obligatorischen Schule absolvierte Melanie die Diplommittelschule. Danach war der Plan, auszuziehen und in Zürich ein Jahr lang Praktika zu machen, damit sie das Studium, das heute als Facility Management bekannt ist, absolvieren kann. Aber – wie so oft – kam es anders, als gedacht. Beziehungsweise geplant.

Statt dem Umzug nach Zürich fand die Beerdigung ihres Vaters statt. Dieser ist im Alter von 46 Jahren unerwartet gestorben. Wahrscheinlich ein Herzinfarkt, aber man habe es nie so genau gewusst. Der schnelle Tod sei ganz sein Stil gewesen. Auch im Leben habe er immer gemacht, ohne gross abzuwarten.

Für die 18-jährige Melanie stellte sich die Welt auf den Kopf. Sie ist schon immer ein Papi-Kind gewesen. Auch sei der Verlust des ersten Eltern-Teils immer schwerer. Nicht zuletzt hatte sein Tod für Melanie beruflich grosse Auswirkungen: Ihre Familie konnte sich das Studium nicht mehr leisten. Melanie blieb in Basel. Und lernte stattdessen das Handwerk der Polygrafin.

Etwas, was sie nie gemacht hätte, wäre ihr Vater noch am Leben gewesen. Grundsätzlich haben ihre Eltern immer gewollt, dass sie etwas macht, das sie erfüllt. Bei Kunstberufen seien sie aber sehr zurückhaltend gewesen. Ihr Vater hätte nie gewollt, dass sie Polygrafin wird. «So sind Eltern eben», meint Melanie mit einem Schulterzucken und einem Lächeln. Sie wollen das Beste für ihre Kinder. Vielleicht, weil sie selbst es nicht haben konnten.

Egal, welche Interessen ich auch habe – alte Notizbücher – Melanie weiss natürlich einen entsprechenden Laden.

Das Leben sei nie ein gerader Weg, erklärt Melanie mir weiter. Selbst auf dem Weg zur Herbstmesse machen wir einen Abstecher. Kaffee im Starbucks. Nicht, weil es dort besonders guten Kaffee gibt – wir mögen ihn beide nicht besonders – sondern weil Melanie grosse Tassen mag. Dann müsse sie nicht immer gleich Nachschub holen. Der Starbucks hat allerdings geschlossen und wir gehen stattdessen zum McCafé. Der hat zwar weder guten Kaffee noch grosse Tassen, aber wir sind beide müde und scheinbar verzweifelt.

Melanies Schlenker im Leben begannen mit der Lehre. Polygrafin sei eine gute Grundausbildung, aber ein Leben lang könne man das nicht machen. Hat sie auch nicht. Nach der Lehre folgte die Weiterbildung zur Druckkauffrau, die kantonale Berufsbildnerin und letzten Endes die Ausbildung zur Sachbearbeiterin HR. Und jetzt? Jetzt hat sie sich für eine Stelle als Zugverkehrsleiterin bei der SBB beworben.

Zwischendurch hatte sie aber auch privat noch einige Kurven gemacht. Mit rund 27 Jahren litt sie unter einem depressiven Erschöpfungszustand – allgemein als Burn-Out bekannt. Die kurze Geschichte dahinter: Ihr damaliger Freund verunfallte mit seinem Motorrad, zerstörte sich sein Gesicht, erlitt mehrere Gehirnblutungen und lag sechs Wochen lang im Koma. Melanie entschied sich, an seiner Seite zu bleiben. Ein Fehler? Die Entscheidung brachte jedenfalls die verschiedensten Schwierigkeiten mit sich.

«Ich konnte mich nicht von seinen Problemen abgrenzen», sagt Melanie. Sie habe sich nicht mehr um sich selbst gekümmert. Nicht mehr sichergestellt, dass es ihr selbst gut geht. Zwei Jahre lang hielt die Beziehung noch, dann machte ihr Freund Schluss und zog zu seinen Eltern. Und Melanie? Melanie konnte nicht mehr.

Trotzdem kämpfte sie sich weiter alleine durchs Leben. Bis sie in einer geschichtsträchtigen Nacht aufgab und sich endlich Hilfe suchte – bei ihrem damaligen Chef, bei dem sie auch schon die Lehre absolvierte. Er hatte bereits mit ihrem Vater zusammen die Lehre gemacht und kannte Melanie ihr ganzes Leben lang. Das war der Punkt, an dem sich ihre Sicht aufs Leben um 180 Grad gewendet habe.

Melanies Chef organisierte ihr einen Arzt, ihr Beschäftigungsgrad in der Firma wurde von heute auf morgen auf 50 Prozent herunter gestuft. Ihr wurde eine ambulante Behandlung angeboten, in der sie sich zwölf Wochen lang befand. Wobei ihr die Ärzte am Ende erzählten, dass sie keine Ahnung hätten, wo genau das Problem sei. Der Grund dafür sei einfach, meint Melanie heute: Sie musste einen Monat lang auf die ambulante Stelle warten. Einen Monat, in dem sie bereits stark an sich selber arbeitete. Und lernte, wie wichtig das ist. «Ich empfehl’s jedem – einfach nicht auf meine Art.»

Nach dem Burn-Out habe sich ihre Sicht aufs Leben stark verändert. Sie lernte, dass es in Ordnung ist, um Hilfe zu fragen. Dass es wichtigeres gibt, als Karriere zu machen. Dass man nie alleine ist und zu dem stehen sollte, der man ist. Dass Angst abtrainierbar ist. Und sie trotzdem immer da sein wird.

Bei Melanie ist es die Verlustangst – einfach etwas komplexer, meint sie. Sie habe Angst davor, nicht gesehen oder gehört zu werden. Ein Grund, weshalb sie immer etwas zu erzählen hat?

Während wir gemeinsam durch Basel schlendern, weiss sie über jede Hausecke eine Geschichte. Über den König, der Kleinbasel die Zunge rausstreckt. Über die Micky-Maus-Männer, die überall auf dem Markt herumlungern – «nimm dich vor denen in Acht, das sind ziemlich aggressive Bettler». Über das Münster und das Rathaus, die alten Mauern, die sich unter der Schule verstecken und über das Hotel, in dem alle bekannten Persönlichkeiten logieren, wenn sie in Basel sind.

Ein relativ neuer Lieblingsort von Melanie in Basel: ein Denkmal an die Hexen, die früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden.

Weiss Melanie etwas nicht – sei es noch so klein – packt sie sofort ihr Handy aus der Tasche, um die Wissenslücke zu füllen.

Auch ausserhalb von Basel kennt sie sich bestens aus. In bester Märchenstimme gibt sie die Geschichte des Unspunnensteins aus dem Jura wieder. Die Kurzfassung: Er wurde von den Béliers, jurassischen Separatisten, gestohlen, eingraviert, zurückgebracht – als grosses Bonbon verpackt – in einem Hotel in Interlaken ausgestellt und von dort aus wieder gestohlen. Seither hat ihn niemand mehr gesehen. Melanies Lieblingsgeschichte.

Während sie all diese Geschichten zum Besten gibt und zwischendurch von ihrem Leben erzählt, lache ich immer wieder auf. Was folgt, ist ein strenger Seitenblick von Melanie.

«Das ist kein Witz. Ich mache grundsätzlich keine Witze», meint sie.
Mein Lachen wird zu einem Lächeln und ich nicke. Bei jedem anderen Menschen hätte ich diese Aussage hinterfragt.

Inzwischen käme sie langsam wieder auf den ursprünglichen Plan zurück, erzählt Melanie. Facility Managerin wollte sie werden, damit sie ihren Job mit Reisen verbinden konnte. Zwar kann sie das immer noch nicht, allerdings arbeite sie inzwischen anderweitig daran, reisen zu können. Ob auf längere Zeit oder einfach zwischendurch in den Ferien, das stünde noch in den Sternen.

Ich – die Heldin?

Während Melanie mit der Angst kämpft, nicht gesehen oder gehört zu werden, ist bei mir das Gegenteil der Fall: Ich mag es nicht, wenn ich gesehen werde. Da ich in diesem Artikel allerdings mich selbst in den Fokus setze, lässt sich dieser Teil hier nicht vermeiden. Hab ich mir wohl selbst eingebrockt. Item.

Meine Schlenker begannen wohl schon als Kind. Beziehungsweise bereits, als ich auf die Welt kam. Ich lag falsch herum im Bauch meiner Mutter. Ein «Stärneguggerli», wie sie immer sagte. Wahrscheinlich habe ich meinen Kopf dort oben gelassen. Und mit ihm jegliche Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen.

Als Kind hatte ich zahlreiche Traumberufe. Köchin, Tierpflegerin, Tänzerin, Lehrerin, Handwerkerin, Pflegerin, Gärtnerin – nur Ärztin und Schriftstellerin wollte ich nie werden. Letzteres war mir zu einsam. Während meine beste Kindheitsfreundin ihr Herz auf einen Beruf – Kindergärtnerin – setzte, wechselte ich meinen Traumberuf wahrscheinlich häufiger als meine Socken. Bis ich in der Oberstufe beim Journalismus landete.

Als Kind schreckte ich vor beinahe keinem Wunschberuf zurück. Auch auf den Traumberuf Lehrerin kam ich immer wieder zurück.

Nach der neunten Klasse entschied ich mich für das Gymnasium statt einer Lehre. Weil ich Journalistin werden will, sagte ich damals. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich inzwischen bereits wieder keine Ahnung. Als Schwerpunktfach wählte ich Psychologie, Pädagogik und Philosophie. Das Fach, das laut Stereotyp entweder angehende Lehrpersonen oder komplett planlose Menschen wählen. Wie überraschend.

Was ich nach dem Gymnasium machte? Ein Zwischendurch. (Anmerkung der Autorin: Eigentlich sollte hier Zwischenjahr stehen, aber das Rechtschreibprogramm hat es – irgendwie passend – korrigiert.) Während ich so die Zeit mit meinem Hund genoss und tagtäglich meinem Vater Mittagessen kochte, wurde mir bewusst, dass ich keine Haustochter sein kann. Ein Job – und vor allem Geld – musste her.

Melanie: Wie man mit dem Leben umgeht, hat auch viel damit zu tun, wie man erzogen wurde. Und welcher Generation man angehört.
Ich: Ich glaube nicht daran, dass meine Generation eine Auswirkung auf meine Sorgen und Ängste hat.
Melanie: Dachte ich lange auch nicht. Ist aber so. Deine Generation hat einen grossen Einfluss auf deine Ziele und Bedürfnisse im Leben. Deine Generation beispielsweise hat viele Jobs, aber immer nur kurz. Sie wollen Geld, damit sie machen können, was sie wollen, damit sie unabhängig sein können.

Eine Weile spielte ich mit der Idee, eine Grundausbildung einfach sausen zu lassen. In den nächsten Flieger zu steigen und meinem Leben hier auf Wiedersehen zu winken. Taxifahrerin zu werden, Tellerwäscherin, auf einer Plantage zu arbeiten. Wie ein Vagabund durch die Weltgeschichte zu ziehen. Unabhängig zu sein. Aber meine Angst vor dem Unbekannten holte mich ein.

Als Kind schien ich weniger Angst vor dem Unbekannten gehabt zu haben. Neben den normalen Berufen wollte ich beispielsweise auch immer etwas abstraktes werden, wie Amazone.

Als Anfang arbeitete ich zwei Monate im Detailhandel. Nach diesen zwei Monaten waren zwei Sachen klar: Ich habe einen riesigen Respekt vor Menschen, die im Detailhandel arbeiten. Und ich werde nie einer dieser Menschen sein. Stattdessen suchte ich mir ein Praktikum – im Journalismus. Dem «Grund», warum ich überhaupt erst die Matura absolvierte.

Nach rund einem halben Jahr wurde mir klar, dass mir dieser Beruf – zumindest der Schreib-Teil – vielleicht doch noch lag. Und ich entschied mich, eine Grundausbildung zu machen. Die jetzt dann bald zu Ende geht und mich wieder vor die Frage stellt: Bleiben oder gehen? Komme ich als veränderter Mensch an oder ziehe ich erst los?

Und bin ich eigentlich die einzige, die nicht damit aufhören kann, sich Sorgen um ihre Zukunft zu machen?

Ein Gespräch über die Angst

Einmal eine mittlere Schokolade, einmal ein mittleres Chai Latte. Nur mittel, weil im Starbucks mittel bereits ziemlich gross ist. Melanie und ich setzen uns in den etwas volleren als erwartet oberen Stock. Ich habe ganz viele Fragen. Melanie – hoffentlich – die Antworten.

Ich: Angst vor der Zukunft zu haben – das klingt so krass. Ich habe nicht unbedingt Angst vor der Zukunft an sich, sondern davor, Entscheidungen beziehungsweise falsche Entscheidungen zu treffen. Ich will nicht eines Tages aufwachen und denken: Ich habe in meinem Leben absolut nichts erreicht. Aber ich weiss im Moment einfach nicht, was ich eigentlich genau will.
Melanie: Das ist ganz normal, jeder kennt das Gefühlt. Ich kann dich hier leider Gottes auch nicht wirklich beruhigen: Diese Angst wirst du dein Leben lang haben.
Ich: Du hast diese Sorgen also auch?
Melanie: Natürlich.
Ich: Du wirkst aber viel ruhiger als ich. Als hättest du jederzeit alles im Griff.
Melanie: Und trotzdem stehe ich manchmal einfach da und habe keine Ahnung, was ich machen soll. Etwas stimmt nicht, aber wo ich hin will, weiss ich auch nicht.
Ich: Hm.
Melanie: Aber ich würde nicht Angst davor haben.
Ich: Auf mich wirkt das jedenfalls schon etwas angsteinflössend.
Melanie: Es kann durchaus belasten. Aber die Frage ist einfach, was du daraus machst.
Ich: Willst du mir jetzt sagen, dass ich einfach das Beste daraus machen soll?
Melanie: Wenn ich merke, dass etwas nicht stimmt, dass mich etwas unzufrieden macht, dann versuche ich als erstes herauszufinden, was dieses Etwas überhaupt ist. Und dann kommt die nächste Frage: Was brauche ich? Wenn ich das weiss, muss ich nur noch herausfinden, wie ich dahin komme. Der Weg bis zum Ziel ist für mich sehr sekundär, man macht sowieso immer Kurven im Leben. Wenn du dich für etwas entscheidest und merkst, dass das falsch war, hast du trotzdem wieder etwas gelernt. Und was du gelernt hast, kannst du immer wieder brauchen.
Ich: Ein Ziel hast du in diesem Fall aber schon?
Melanie: Ja. Zufrieden zu sterben.
Ich: Ist das für dich der Sinn des Lebens?
Melanie: Ich hab mir mal überlegt, was der Sinn des Lebens ist. Dabei kam ich zum Schluss, dass das die falsche Frage ist.
Ich: Wieso?
Melanie: Es ist wie ein Buch. Wenn du mitten in der Geschichte steckst, kannst du das grosse Ganze, das vielleicht am Ende auf dich wartet, noch nicht sehen. Solange wir leben, wissen wir auch nicht, was unser Sinn ist. Das können wir frühestens herausfinden, wenn wir sterben. Deswegen fand ich, dass es viel sinnvoller ist, diese Frage zu stellen: Was will ich, wenn ich sterbe?
Ich: Und für dich lautet die Antwort: Zufrieden sein.
Melanie: Genau. Ich will zurückblicken und sagen können: Ich war zufrieden. Jeder Fehler, den ich gemacht – oder nicht gemacht habe – war gut.
Ich: Gute Fehler?
Melanie: Gut ist vielleicht das falsche Wort. Sagen wir: richtig gewesen im Moment.
Ich: Aber trotzdem: Wie kannst du jetzt schon wissen, was dich auf deinem Sterbebett zufrieden machen wird? Wie kannst du jetzt schon wissen, welches die richtigen Entscheidungen sind?
Melanie: Ich lebe einfach nach dem, das mich jetzt zufrieden macht. Und was das genau ist, kann dann jeder für sich selbst entscheiden. Zufriedenheit bedeutet für mich beispielsweise auch ein gewisses Wegbrechen der gesellschaftlichen Norm.
Ich: Was heisst denn das schon wieder?
Melanie: Wir befinden uns alle in einem Hamsterrad. Mein Ziel ist es, mit 50 Jahren so wenig Kontaktpunkte mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten und Normen zu haben wie nur möglich. Ich arbeite, ich zahle Steuern – aber den Rest bestimme ich selbst. Ein Ziel zu haben hilft enorm beim Entscheidungen treffen.
Ich: Ich weiss nicht. Ein Ziel übt irgendwie auch so viel Druck aus.
Melanie: Kommt ganz darauf an, wie man es formuliert. Es muss nicht unbedingt materiell sein. Du kannst dir auch einfach die Frage stellen: Wie will ich mit 30 Jahren sein?
Ich: Keine Ahnung?
Melanie: Das Ziel muss nicht konkret sein. Du kannst einfach sagen: Ich will schreiben. Aber was genau, oder wo genau, lässt du offen. Immerhin weisst du gar nicht, was es überhaupt alles noch gibt, wenn du 30 Jahre alt bist.
Ich: Du stellst dir also einfach möglichst offene Ziele?
Melanie: Ja, ansonsten schränken sie dich nur ein – oder machen dir Angst, weil du denkst, dass du sie unbedingt erreichen solltest. Als Kind fragte ich mich beispielsweise immer, was ich nicht wollte. Und dann begann ich zu skizzieren, wie mein Plan stattdessen aussehen sollte.
Ich: Hast du in diesem Sinne auch ein berufliches Ziel?
Melanie: Ich will meinen Traumjob ausüben.
Ich: Ich dachte, du hast keinen Traumjob.
Melanie: Keinen definierten. Wenn ich sage, ich will meinen Traumjob ausüben, meine ich: Ich will etwas für die Gesellschaft tun, etwas, dass sinnvoll ist, einen Mehrwert generiert, Freude macht. Das sind meine Eckpunkte. Wie sich das genau ausbildet, sehe ich dann, wenn es soweit ist.
Ich: Hm. Ein Ziel haben, dieses aber nicht zu konkret ausformulieren. Eine interessante Überlegung.
Melanie: Oder auch das Reisen. Mein Ziel war es schon immer, zu reisen. Aber wie genau – Langzeit, einfach in den Ferien, verbunden mit der Arbeit – das lasse ich einfach offen. Das braucht Zeit, um sich zu entwickeln.
Ich: Aber hast du nicht trotzdem detaillierte Wünsche, wie genau diese Ziele aussehen sollten?
Melanie: Nein, das würde mich nur unter Stress setzen. Dann hast du plötzlich diesen Jahresplan, den du genau befolgen solltest – und der dann vielleicht trotzdem nicht klappt. Kann schon sein, dass das für manche Menschen funktioniert – aber mir würde das Angst machen.
Ich: Okay, nicht zu detaillierte Pläne machen, damit man sich nicht über die Details stressen kann. Das verstehe ich. Aber was, wenn man einfach gar keine Ahnung hat, was man machen will? Und einen das einfach nur stresst?
Melanie: Oftmals ist Stress eine Altersfrage. Das Bild der alten Weisen ist nicht ganz falsch: Oft sind ältere Menschen ruhiger, weil sie einfach alt sind. Und dadurch mehr Erfahrung haben und wissen, dass letzten Endes alles irgendwie gut kommt.
Ich: Das bringt mir, die jung und gestresst ist, nicht besonders viel.
Melanie: Immerhin liegt es nicht an dir, sondern an deinem Alter. Was ich aber in einer solchen Situation empfehlen kann: ein Spaziergang im Wald. Einfach, um etwas runterzufahren und sich Gedanken dazu zu machen, was genau das Problem ist und wie man es lösen kann. Wenn das gar nichts bringt: eine Münze werfen.
Ich: Die Entscheidung einfach dem Zufall zu überlassen?
Melanie: Vor kurzem las ich einen Artikel, in dem ein Mädchen ein Freifach wählen musste: Griechisch oder Latein. Sie wusste nicht was. Ihr Vater meinte daraufhin: Dann werfen wir doch einfach eine Münze. Kopf ist Griechisch, Zahl ist Latein. Noch bevor er die Münze werfen konnte, rief sie aus: «Nein, ja nicht, was mache ich wenn…?» Sie wusste also eigentlich, was sie wollte. Im Grunde wissen wir alle, was wir wollen. Und am besten können wir uns selbst zuhören, wenn es still ist und wir keine Ablenkung haben – so wie draussen im Wald.
Ich: Ich weiss nicht, ob einfach nur darüber nachdenken hilft, eine Entscheidung zu treffen. Denkt man irgendwann nicht einfach zu viel darüber nach?
Melanie: Natürlich, irgendwann muss man auch handeln. Sobald du eine Idee hast, in welche Richtung es gehen könnte, kannst du das in Angriff nehmen. Schnuppern gehen, ein Praktikum machen. Und wenn es immer noch nicht das Richtige ist, entsprechende Anpassungen und Änderungen vornehmen.
Ich: Das klingt alles so einfach, wenn du das sagst. Bist du immer so ruhig? Hast du nie Momente, in denen du einfach nur gestresst bist – vielleicht auch ein bisschen Angst vor der Zukunft hast? Dass du dein Leben verschwendest?
Melanie: Ah doch, doch. Immerhin hatte ich ein Burn-Out. Jeder hat zwischendurch das Gefühl, dass er sein Leben verschwendet, dass er nicht tut, was er sollte. Es gibt doch diese blöden Sprüche: «Du bist genau da, wo du sein solltest». Leider Gottes ist es so. Auch wenn du das Gefühl hast, du verschwendest dein Leben, es stimmt nicht. Es ist eine Frage des Fokus.
Ich: Des Fokus?
Melanie: Ich arbeitete vor kurzem zwei Monate lang in einer Werbeagentur. Das könnte ich theoretisch als verschwendete Zeit anschauen. Ja, ich hätte diese Zeit auch ganz anders nutzen können. Wiederum habe ich in dieser Zeit auch vieles gelernt. Vieles verstanden. Aus jeder Situation kannst du etwas gutes daraus ziehen.
Ich: Wirklich aus jeder Situation?
Melanie: Ich habe mir mal den dümmsten Fall überlegt: Mir steckt jemand ein Messer ins Herz. Wie würde ich da reagieren?
Ich: Schreien?
Melanie: Nicht unbedingt. Ich würde als erstes sicher fluchen. Und dann das Messer nicht herausziehen, damit ich immerhin nicht direkt verblute. Und dann würde ich Danke sagen.
Ich: Danke sagen?
Melanie: Ja, weil jetzt habe ich ein Erlebnis, das ich ansonsten nicht gehabt hätte.
Ich: Das ist einfach zu sagen, wenn man nur über diese Situation nachdenkt.
Melanie: Natürlich. Aber ich wünsche mir, dass ich so reagieren würde.
Ich: Egal ob schlecht oder gut, du siehst – oder versuchst es zumindest – jedes Erlebnis als neue Erfahrung, die dein Leben bereichert.
Melanie: Genau. Man muss allerdings auch etwas aufpassen. Krankhafter Optimismus bringt auch nicht besonders viel.
Ich: Also dankbar sein für alles, ob gut oder schlecht – aber gleichzeitig auch nicht zu optimistisch sein. Eine Balance zu finden. Ist das nicht anstrengend?
Melanie: Etwas, was mir hier sehr geholfen hat, ist, mich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Viele Menschen nehmen sich oft selbst viel zu wichtig. Natürlich dreht sich dein Leben um dich. Aber du bist nicht das Wichtigste auf der Erde. Für die Weltbevölkerung – zumindest auf unserer Stufe – spielt es keine Rolle, ob wir da sind oder nicht.
Ich: Zwischendurch über mich selbst lachen. Notiert. Wenn man ein Problem hat, ist das teilweise aber gar nicht so einfach.
Melanie: Wenn ich ein Problem habe, frage ich mich immer: Was ist das Schlimmste, das passieren kann? Wenn es nicht sterben ist, ist es nicht schlimm. Wobei auch Sterben nicht schlimm ist. Aber du weisst, worauf ich hinaus will.
Ich: Das ist einfach im Nachhinein zu sagen. Was machst du, wenn du mitten im Problem steckst?
Melanie: Vertrauen. Vertrauen, dass alles nicht unbedingt gut, aber so kommt, wie es sein muss. Ich bin mir stets bewusst, dass alles, egal ob gut oder schlecht, eine Phase ist. Alles endet.
Ich: Verlierst du dieses Vertrauen manchmal auch?
Melanie: Natürlich. Es ist nicht so, als hätte ich vor nichts Angst. Durch den Tod meines Vaters setzte sich irgendwann die Angst fest, nicht gesehen oder gehört zu werden – etwas, was man allgemein als Verlustangst bezeichnen würde. Dadurch verliere ich manchmal auch das Vertrauen, dass alles so kommt, wie es muss.
Ich: Und wie gehst du mit dieser spezifischen Angst um?
Melanie: Ich musste lernen, damit umzugehen. Inzwischen weiss ich, dass das nur meine Angst ist. Das ist gar nicht so.
Ich: Wenn du Angst hast, sagst du also einfach «Nein danke»?
Melanie: Angst kann man abtrainieren. Ansonsten gebe es ja keine Angsttherapien. Und falls alles nichts mehr hilft, sollte man sich vielleicht mal überlegen, was Angst eigentlich genau ist.
Ich: Und das wäre?
Melanie: Nichts anderes als eine Einschränkung.
Ich: Einen Nutzen hat sie ja aber schon.
Melanie: Natürlich hat sie eine Urfunktion. Sie warnte uns – beziehungsweise unsere Vorfahren – vor Gefahren. Aber Entschuldigung: Heutzutage werden wir nicht mehr von Dinos gefressen. Ich wage zu behaupten, dass in 99.9 Prozent der Fälle Angst nicht gerechtfertigt ist.
Ich: Ich muss also vor der Zukunft nicht Angst haben, weil sie mich nicht fressen will und von ihr entsprechend keine Gefahr ausgeht.
Melanie: Zumindest ist es das, was ich denke. Aber eben: Das sind meine Erfahrungen, die ich gemacht habe. Sie stimmen für mich. Was ich dir aber auch sicher sagen kann: Egal, wie lange du mit einem Problem kämpfst, es wird mit der Zeit einfacher. Du gewöhnst dich irgendwann daran.

Wir sitzen beide einfach da und schlürfen unsere inzwischen nicht mehr ganz so warmen Getränke. Ob sich etwas verändert hat? Keine Ahnung. Es war auf jeden Fall eine interessante Erfahrung. Melanie hat vielleicht nicht DIE Antworten, aber immerhin einige Antworten. Oder zumindest Ansätze.

Die Reise endet/beginnt

Anfang Dezember treffe ich Melanie erneut und wir schlendern zusammen über den Basler Weihnachtsmarkt. Die Stände haben sich etwas verschoben, die Micky-Mäuse haben sich in Weihnachtsmänner verwandelt. Diesmal stehen sie etwas weiter weg vom Markt, überall stehen Schilder, die aggressives und aufdringliches Betteln ausdrücklich verbieten.

«Ich hab mich entschieden, mein Hamsterrad violett zu machen», sagt Melanie.
«Dein Hamsterrad?», frage ich etwas verwirrt, während ich meine Hände aneinander reibe, um ihnen die Kälte auszutreiben.
«Das Hamsterrad, in dem wir alle leben», sagt sie. «Meines soll violett mit gelben Sternen sein.»
«Ich mag violett und gelb zusammen nicht besonders», sag ich.
«Es ist ja auch mein Hamsterrad.»

Melanie hat inzwischen die Stelle als Zugverkehrsleiterin bekommen. Ich, ich kündige auf den Sommer, um mir endlich den Traum vom Reisen zu erfüllen. Zumindest für eine Weile. Ob ich im Journalismus bleiben werde? Keine Ahnung. Aber eines weiss ich: Ich will schreiben. Egal wo, egal wie. Ein grobes Ziel, die Details kommen später. Ich lerne von meiner Mentorin.

Text: Rebekka Affolter
Bilder/Illustrationen: Rebekka Affolter
Diagramme: Jonas Cosandey

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